Mensch – Ding – Welt: Ein langer Weg zum Anthropozän

Archäologie, Ethnologie und Geologie im Dialog zu Natur-Kultur- und Mensch-Umwelt-Verstrickungen. Ist die Jungsteinzeit der Beginn eines langen Prozesses und wer macht eigentlich wie (Erdzeitalter-)Epoche?  Diese und andere Fragen beschäftigen die RGK derzeit nicht nur im Rahmen einer Podiumsdiskussion auf dem Weltempfang der Frankfurter Buchmesse.

Am 17. Oktober 2019 organisierte die Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts im Rahmen des Weltempfangs des Auswärtigen Amtes bei der Frankfurter Buchmesse eine Podiumsdiskussion mit dem Thema: „Mensch ‑ Ding ‑ Welt: Ein langer Weg zum Anthropozän“. Moderiert von Joachim Müller-Jung (F.A.Z.), diskutierten Sabine Wolfram,  Direktorin des Staatlichen Museums für Archäologie in Chemnitz, Hans Peter Hahn, Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt, und Volker Mosbrugger, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, über zentrale Aspekte des Anthropozäns und seiner Entstehung. So entstand eine angeregte Debatte zum Thema aus der Sicht von Archäologie, Ethnologie und Geologie, bei der auch vor sozial- und gesellschaftskritischen Fragen nicht zurückgescheut wurde.

Abb. 1. Podiumsdiskussion auf der Frankfurter Buchmesse am 17. Oktober 2019. Von links nach rechts: Volker Mosbrugger, Hans Peter Hahn, Sabine Wolfram, Joachim Müller-Jung (Foto: Chr. Rummel, RGK).

Ein wesentlicher Diskussionspunkt des Anthropozäns ist die grundsätzliche Frage, inwieweit es angemessen ist, einen so kurzen Zeitraum – wie er derzeit für das Anthropozän diskutiert wird –als „Erdzeitalter“ einzustufen. Gemeinhin wird konstatiert, das Anthropozän löse das Holozän ab. Aber wann? Ist eine Grenze um 1950 zu ziehen ‑ angesichts der Atombombentests, die weltweite, stratigraphisch belegbare Veränderungen verursachten? Und vielleicht deshalb, weil in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. eine Beschleunigung beim Ressourcenverbrauch und Klimawandel, ein exponentieller Anstieg der Produktion von Rückständen in der Umwelt – Stichworte Plastikmüll und Treibhausgase  – sowie die Reduktion von Artenvielfalt in einem vorher unbekannten Maße eingetreten ist?

Auch wenn aus geologischer Sicht eine klare Linie gezogen werden könnte, ist eine grundsätzliche Veränderung der Wechselbeziehung Mensch-Erde und ein nachhaltiger Einfluss auf die Um- und Mitwelt bereits früher erkennbar, allerspätestens seit der Industriellen Revolution. Das würde sich, so Mosbrugger, mit messbaren Veränderungen im System Mensch-Erde, welche man vielleicht als „Anthroposphäre“ bezeichnen könnte, decken: Ein eindeutiger, globaler Anstieg im -Gehalt ist ab der Mitte des 19. Jhs. belegt. Vielleicht könnte und sollte man aber durchaus schon in die Jungsteinzeit zurückschauen. Denn spätestens ab ca. 6000 v. Chr. beginnt  der Mensch – in Europa konkreter auf seine Umwelt einzuwirken, als sie nur für sich zu nutzen. Als Ergebnis seiner neu gefundenen Sesshaftigkeit fängt er an, bodenbildende Prozesse zu verändern, bestimmte Tier- und Pflanzenarten zu züchten und seine Umwelt für die Landwirtschaft und die Ressourcennutzung zu optimieren. Dies sind Aspekte der frühen Menschheitsgeschichte, die auch von der RGK u. a. im Rahmen eines Forschungsprojekts in Südungarn erforscht werden (siehe: https://publications.dainst.org/journals/efb/1617; https://publications.dainst.org/journals/efb/2170).

Abb. 2. Über vielfältige Spuren des Menschen in Europa und die ersten Bauern im Karpatenbecken während der Jungsteinzeit kann man gleich in zwei 2019 erschienen Publikationen mit RGK-Beteiligung lesen.

Letztendlich, so argumentierte Wolfram, kann man erst mithilfe der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie die ganze Entwicklung hin zum Anthropozän belegbar nachvollziehen. Sie schlug daher vor, vom „Protoanthropozän“ zu sprechen, um dem menschlichen Einfluss auf seine Umwelt seit der Jungsteinzeit Rechenschaft zu tragen, diesen aber von den globalen und rapiden Veränderungen seit Mitte des 19. Jh. abzugrenzen.

Hahn vertrat dagegen die Position, das Anthropozän nicht als klar definierbare Einheit bestimmen zu wollen, da es sich vielmehr um Prozesse, vor allem aber die Effekte menschlicher Handlungen und Dinge handelt. Er argumentierte für eine immer komplizierter werdende „verhängnisvolle Verstrickung von Kultur und Natur“. Wir nutzen, verändern und verbrauchen, sind uns oft aber über die (Langzeit-)Folgen dieser Praktiken sowie die Konsequenzen der Produktion und des Konsums – Nutzen und Verwerfen – von Dingen gar nicht im Klaren.

Deshalb müssen wir fragen: Liegt vielleicht die wesentliche Veränderung in der Skalierung verschiedener Mensch-Ding-Umwelt-Interaktionen, die immer schon prozesshaft waren – früher aber eher lokale Effekte hatten und sich nun global auswirken? So lebte die Menschheit über Jahrtausende hinweg mit und in ihrem eigenen Müll ‑ man denke nur an die auf ihrem eigenen Siedlungsschutt gewachsenen Tell-Siedlungen Südosteuropas und Vorderasiens, wie sie die RGK im Einzugsgebiet der Theiß erforscht (https://www.dainst.blog/crossing-borders/2019/01/04/luftbildarchaeologische-untersuchen-in-suedost-ungarn/). Bis heute hat die Menschheit eine Technosphäre kreiert, die mit 50 kg pro Quadratmeter die Erdoberfläche bedeckt. Statt einer Trendwende hin zu einer Reduktion, beschleunigt sich dieser Prozess der „Massendinghaltung“ stetig weiter.

Abb. 3. Besonders berühmt ist der Monte Testaccio in Rom, ein Hügel von rund 1000 Meter Durchmesser und einer etwa 45 Meter hohen Schicht an Scherben von ca. 53 Millionen Amphoren. Nach ihm ist heute ein Stadtviertel Roms benannt (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Testaccio_monte_dei_cocci_051204-12-13.JPG).

Es sind jedoch nicht nur die Spuren und Dinge, die wir hinterlassen, die Mensch-Umwelt-Beziehungen nachhaltig definieren und prägen. Ebenso wichtig, und vielleicht von noch direkter Konsequenz für unsere Umwelt, ist die Nutzung von Ressourcen. Ausbeutung von Bodenschätzen sowie Übernutzung von Meer und Boden sind akute Themen der heutigen Debatte um das Anthropozän. Der Mensch hat aber immer schon seine Umwelt genutzt und verändert – so in Form frühesten Bergbaus seit der Steinzeit, durch Abholzung ganzer Landstriche gerade in der Römerzeit, oder Ausrottung bestimmter Tierarten in einzelnen Regionen seit frühester Zeit. Dementsprechend wichtig ist es, auch prähistorische Ressourcen-, Produktions- und Distributionslandschaften zu untersuchen, wie dies die RGK in Zukunft zum Beispiel zusammen mit Österreichischen Kolleg*innen zur Salzlandschaft Hallstatt plant.

Während die Menschheit also ihre Umwelt immer schon in irgendeiner Form ausgebeutet hat, hat sich dieser Prozess, gerade auch als Ergebnis der Explosion der Erdbevölkerung, immer weiter beschleunigt und verstärkt und nun ein Ausmaß erreicht, das nicht mehr tragbar ist. In der Archäologie wird dieses Phänomen kleinräumig immer wieder bei der Entstehung von Siedlungskonzentrationen und Großsiedlungen beobachtet, die nur eine oder zwei Generationen überdauern, weil man die damit auch verbundenen sozialen Herausforderungen nicht immer erfolgreich meistert. Insbesondere die sogenannten „mega-sites“ der Kupferzeit in Moldawien und der Ukraine sind hierfür spannende Fallstudien, die die RGK zusammen mit  moldawischen und ukrainischen Partnern sowie der Universität Kiel auch im Rahmen des Exzellenzclusters ROOTs untersucht (https://publications.dainst.org/journals/efb/2116).

Abb. 4. Kupferzeitliche Großsiedlung von Stolniceni, Republik Moldau, mit zahlreichen unterschiedlichen Bodeneingriffen durch den Menschen, u. a. über 350 Häuser, Wege als Erosionsrinnen und zahlreiche Töpferöfen (Grafik: K. Rassmann, RGK).

Laut Mosbrugger ist daher heute umso mehr ein „nachhaltiger Umgang mit der Natur, insbesondere eine nachhaltige Lösung der Energieproduktion“ wichtig. Der Mensch darf grundsätzlich nicht mehr verbrauchen, als nachwächst ‑ eine Gleichung, die lange Zeit Bestand hatte, heute aber nicht mehr aufgeht. Mosbrugger präsentierte zwei mögliche Zukunftsszenarien: Im positiven Szenario findet die Menschheit innerhalb der nächsten ca. 100 Jahren einen derartigen Weg der Nachhaltigkeit für eine Erdbevölkerung von z. B. 8–9 Milliarden Menschen. Im negativen Szenario wird dies nicht erreicht und es gibt keine grundlegende Veränderung. Die „Anthroposphäre“ reagiert und die Erdbevölkerung würde, so eine Prognose, – durch welche Mechanismen auch immer – drastisch reduziert, z. B. auf ca. 5 Milliarden. Denn mit dieser Bevölkerungsgröße ist ein nachhaltiges System bei Beibehaltung derzeitiger Ansprüche eher möglich. Eine dramatische Vorstellung, die grundsätzlich von dem Gedanken einer „tragedy of the endless“ geprägt ist – wir denken, wir könnten die Natur nutzen, da sie unerschöpflich sei. Bei einer Erdbevölkerung von mehr als 7,5 Milliarden trifft dies aber nicht mehr zu, und die Erdressourcen sind nicht mehr „endlos“. Fazit: Wir müssen einen neuen Umgang mit unseren Dingen und der Welt und lernen.

Doch wie könnte ein derartiger Weg – vielleicht sogar aus dem Anthropozän hinaus – aussehen? Laut Mosbrugger müsste der Mensch sich der langen Entwicklung der „Anthroposphäre“ anpassen und Evolution als Selbstorganisation auffassen. Da derartig hochkomplexe Systeme nicht steuerbar seien, bräuchte es ein evolutionäres System, in dem jede(r) Einzelne durch neue individuelle Wege zu einer konstanten Neuerfindung unseres Verhältnisses mit unserer Umgebung beitragen könnte und würde. Hierbei, darin war sich das Podium einig, können und werden Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz eine Rolle spielen. Aber auch der alltägliche Umgang mit Dingen jedes einzelnen müsste überdacht werden – so könnte man laut Hahn zum Beispiel aus dem kreativen Umgang mit „Müll“, wie er derzeit schon in einigen Teilen der Welt und ‑ wenn auch im kleineren Maße – unserer Gesellschaft betrieben wird, lernen. Ganz zentral sei hier Nachhaltigkeit im Umgang mit Dingen. Wolfram betonte, dass hier letztlich auch grundlegende Ideen unserer kapitalistischen Konsumwirtschaft in Frage gestellt werden müssten.


Abb. 5. Der Klimawandel und die Frage wie der Mensch seine Umwelt verändert, war auch Leitthema einer Ausgabe des DAI-Magazins Archäologie Weltweit 2019. https://www.dainst.org/publikationen/archaeologie-weltweit

Grundsätzlich war sich das Podium einig, das Anthropozän primär als Debatte zu sehen. Zur Diskussion steht die Rolle des Menschen als Teil eines größeren und hochgradig komplexen Systems. Keineswegs ist der Mensch alleiniger Akteur, er interagiert mit seinem Umfeld und beeinflusst dieses, wird aber genauso von seinem Umfeld und seiner Umwelt beeinflusst. Insbesondere Hahn plädierte dafür, in diesem Rahmen auch die Natur als Akteur zu sehen.  Die wesentliche Veränderung, die das Anthropozän definieren könnte, so das einstimmige Fazit, ist, dass wir heute Kräfte in Gang setzen, die wir selbst nicht mehr kontrollieren (können), oft sogar zu spät erst verstehen. Der Kontrollverlust – obwohl man sich zugleich als wesentlichen Akteur begreift – wird damit zu einem zentralen Thema des Anthropozän.

Abschließend konstatierte Joachim Müller-Jung, dass mit dem Anthropozän also in gewisser Weise Menschheitsgeschichte Erdgeschichte wird. Wir als RGK ziehen daraus den Schluss, dass archäologische Bodenarchive für die Geschichte und das Verständnis des (Proto-)Anthropozäns und genauso für die Klimaforschung von zentraler Bedeutung sind und immer wichtiger werden! Die Effekte der Mensch-Umwelt-Verstrickungen sind inzwischen global, aber dennoch lokal und regional in ihren Auswirkungen sehr unterschiedlich. Dies und die verschiedensten Bewältigungspraktiken des Menschen können wir als Archäolog*innen sehr gut an den Forschungsplätzen unseres global agierenden Instituts untersuchen und so einen wichtigen Diskussionsbeitrag zum Anthropozän leisten. Die Frage von Kulturerbe und Anthropozän wird daher das DAI in den nächsten Jahren begleiten. Wir freuen uns bereits auf die Fortsetzung der Debatte bei der vom 24.-26. März 2020 in Berlin stattfindenden, vom Archaeological Heritage Network und dem DAI organisierten Konferenz „Ground Check ‑ Kulturerbe und Klimawandel“!

AutorInnen: Christoph Rummel, Kerstin P. Hofmann