Fotos: British Museum 123460001, 1499189001, 233685001 (CC BY-NC-SA 4.0); Stadtarchiv Ingolstadt/Rössle. Grafik: O. Wagner, RGK.

ClaReNet – Ein Projekt zu digitalen Wissenspraktiken am Beispiel keltischer Numismatik

von Mirko Brand, Chrisowalandis Deligio, Kerstin P. Hofmann, Markus Möller, Caroline von Nicolai, Katja Rösler, Julia Tietz, Karsten Tolle und David Wigg-Wolf.

Die Klassifikation archäologischer Funde und ihre Repräsentation unterliegen einem ständigen Wandel. Besonders durch die fortschreitende Digitalisierung ergeben sich neue Möglichkeiten des Klassifizierens. Die Grenzen und Möglichkeiten des Klassifizierens sollen im Projekt ClaReNet, das seit Februar 2021 an der RGK und am Big Data Lab der Goethe-Universität Frankfurt läuft, anhand dreier keltischer Münzserien untersucht werden. Diese Praktiken der Wissensgenerierung werden in einer begleitenden Science and Technology-Studie dokumentiert und auf Veränderungen hin analysiert. ClaReNet wird für drei Jahre durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms “Förderung von Forschungs- und Entwicklungs­vorhaben zur theoretischen, methodischen und technischen Weiter­entwicklung der digitalen Geistes­wissenschaften” gefördert.

Objektepistemologien und Wissenspraktiken einst, heute und in Zukunft

Objektepistemologien fragen “nach dem ‚Was‘, dem ‚Wie‘, dem ‚Warum (so)‘ und dem ‚Wozu‘ von vergangenen und gegenwärtigen Diskursen zu, Konzeptualisierungen von und Handlungsroutinen an, mit und infolge von Dingen.” (Hilgert 2018, 15). Die verschiedenen objektepistemologischen Ansätze und Medienwechsel, die die Archäologie und Numismatik seit ihren Anfängen präg(t)en, haben stets auch Einfluss darauf, wie archäologische Funde und Münzen geordnet und dargestellt wurden und werden. Gerade die in den letzten Jahrzehnten entwickelten computergestützten Verfahren haben die Klassifikation und Repräsentation von Objekten stark verändert. Hier sind insbesondere die automatisierte Bilderkennung und die Zurverfügungstellung von vernetzten Daten (LOD – linked open data) zu nennen. Es stellt sich daher die Frage, wann und wie die Massenverarbeitung von Daten zu Objekten sinnvoll ist und welche Auswirkungen dies auf die Erkenntnisprozesse und Forschungspraktiken in den Geisteswissenschaften hat. Ziel von ClaReNet ist es, unter Berücksichtigung und durch Reflektion der vergangenen Forschungspraktiken und im interdisziplinären Dialog systematisch die Potenziale, aber auch Grenzen der IT-gestützten Klassifikation und Repräsentation von Dingen am Beispiel ausgewählter keltischer Münzserien zu diskutieren und zu erproben. Offen ist bislang, ob hierbei anstelle von Texten, Werten und Kontextinformationen in Zukunft stärker Bilder berücksichtigt werden sollten.

Das Drittmittelprojekt passt damit hervorragend zum vierten Themenschwerpunkt des Forschungsplanes (2021-2025) der RGK „Archäologische Episteme in Entwicklung: Zu Landschaften, Objekten, Daten und ihrer Vernetzung“. Es ist hervorgegangen aus dem langjährigen Engagement der RGK in der digitalen Numismatik und dem Reflexions- und Vernetzungsprojekt „Ding-Editionen. Vom archäologischen (Be-)Fund übers Corpus ins Netz“ sowie einem abteilungsübergreifenden Forschungsdatenmanagementprojekt zu Normdaten in der Archäologie geleitet von den Zentralen Wissenschaftlichen Diensten des DAI. Damit bringt es sich wiederum ein in die Konsortialinitiative für das Nationale Forschungsdatenmanagement NFDI4Objects.

Drei keltische Münzserien als Fallbeispiele

Keltische Münzen stellen für die automatisierte Klassifikation eine besondere Herausforderung dar, denn sie sind oft wenig standardisiert und machen eine lange stilistische und ikonographische Entwicklung durch. Für das Projekt ClaReNet wurden beispielhaft drei Münzserien ausgewählt, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Prägung, Standardisierung und stilistischen Entwicklung verschiedene Problemstellungen für die klassifikatorische Einordnung und die Datenmodellierung bieten:

Abb. 1: Büschelquinar, sog. Prototyp. Auf der Vorderseite ist ein nach links blickender Kopf zu erkennen, auf der Rückseite ein nach links springendes Pferd, darüber ein Torques (ein Halsring). Silber. Aufbewahrungsort: Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz. Inv. Nr. O.25668. [Attribution: C. von Nicolai; Copyright: ClaReNet, Danner QuickPX-Travel, RGK]

Die erste Münzserie, die wir analysieren werden, sind die so genannten silbernen Büschelquinare (frz. monnaies à rameau, engl. bushel series) (Abb. 1 und 2). Sie waren im 2. und 1. Jh. v. Chr. vor allem in Bayern, Baden-Württemberg, der Schweiz, Westösterreich, Tschechien und in der Slowakei verbreitet. Die Büschelquinare stellen aufgrund der Vielzahl bestehender typologischer Gliederungen und Objektansprachen eine Herausforderung dar. Aufgrund der weiten Verbreitung wurden diese Münzserien oft regional durch Expert*innen untersucht und systematisiert. Es existieren somit verschiedene Typologien, die teilweise nicht kongruent sind. Mit Hilfe automatisierter Verfahren wollen wir Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Typologien finden und diese in Relation setzen.

Abb. 2: Jüngerer Büschelquinar der Gruppe E nach Kellner 1990 (https://zenon.dainst.org/Record/000150616). Aus den Locken des Kopfes hat sich ein abstrakter Büschel entwickelt, von dem diese Münzserie ihren Namen hat. Auch das Pferd ist stärker abstrahiert dargestellt, über ihm sind Kreis- und Punktsymbole zu erkennen. Aufbewahrungsort: Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz. Inv. Nr. O.25667. [Attribution: C. von Nicolai; Copyright: ClaReNet, Danner QuickPX-Travel, RGK]

Die zweite Münzserie, die im Projekt untersucht wird, sind die sog. monnaies à la croix (Kreuzmünzen), die vor allem in Südwest- und Südfrankreich vorkommen (Abb. 3). Aufgrund ihres langen Prägezeitraums und der weiten geographischen Verbreitung weist diese Münzserie eine außergewöhnlich große Typenvielfalt auf. 2017 hat unser Kooperationspartner Eneko Hiriart eine neue Typologie für die Kreuzmünzen veröffentlicht und zahlreiche Münzfotos zusammengetragen, die er ClaReNet zugänglich macht. Diese Münzserie zeichnet sich durch ihre Vielfalt an Merkmalen aus. Unser Fokus liegt auf der Merkmalskombinatorik und der Gruppeneinteilung durch Künstliche Intelligenz (KI). Anschließend sollen die Ergebnisse mit der Klassifikation Eneko Hiriarts verglichen werden.

Abb. 3: Monnaie à la croix der ‘kubistischen’ Serie. Die Vorderseite zeigt einen stilisierten Kopf nach links, vor diesem sind zwei Delphine zu erkennen. Auf der Rückseite sind in einem Kreuzmotiv, dem diese Münzserie ihren Namen verdankt, eine Axt sowie drei Ellipsen dargestellt. Die monnaies à la croix wurden ab 240 v. Chr. über eine Zeitspanne von fast 200 Jahren geprägt. Silber. Aufbewahrungsort: Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz. Inv. Nr. O.13457. [Attribution: C. von Nicolai; Copyright: ClaReNet, Danner QuickPX-Travel, RGK]

Die dritte Münzserie wird im Projekt vor allem anhand des Schatzfundes Le Câtillon II von der Kanalinsel Jersey bearbeitet (Abb. 4). Mit 70.000 Münzen, v.a. Statere und Viertelstatere der Coriosolitae, ist dieser der größte jemals gefundene keltische Münzschatzfund, so dass seine Bearbeitung mit ‘klassischen’ Wissenspraktiken der Numismatik (etwa der analogen Stempelanalyse) für unseren Kooperationspartner Philip de Jersey ein Jahrzehnte dauerndes Unterfangen wäre (Abb. 5). Diese Masse gilt es mit automatisierten Bilderkennungsverfahren zu bearbeiten und die Anwendbarkeit von Klassifikation zu analysieren.

Abb. 4: Sogenannter Stater der Coriosolitae, Klasse VI (CATII-H-01081). Auf der Vorderseite ist ein Kopf nach rechts dargestellt. Charakteristisch für die Klasseneinteilung ist die Nase, hier in Form einer umgekehrten Zwei. Auf der Rückseite ist ein gezügeltes Pferd mit Menschenkopf nach links zu erkennen, davor eine Art Leiter, darunter ein Wildschwein. Billon. Dm.: 22,5 mm. Aufbewahrungsort: Jersey Heritage. [Attribution: Ph. de Jersey; Copyright: Jersey Heritage]
Abb. 5: Blockbergung des Schatzfundes Le Câtillon II auf der Kanalinsel Jersey. Mit rund 70.000 Münzen handelt es sich um den größten bislang entdeckten keltischen Münzschatz. [Attribution: Ph. de Jersey; Copyright: Jersey Heritage]

Künstliche Intelligenz und die Klassifikation keltischer Münzen

An diese unterschiedlichen Herausforderungen der Münzserien treten wir mit Methoden und Tools aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) heran. Für die Erkenntnis von Kongruenz, die Überprüfung von Merkmalskombinationen und für große Datenmengen eignen sich insbesondere Klassifikations-, Clustering- und Mustererkennungsverfahren, da sie ohne den Umweg über Text auf Fotos von Objekten zugreifen können. In diesem Bereich wurden im BigDataLab der Goethe Universität Frankfurt bereits in Projekten mit römischen und griechischen Münzen entsprechende Methoden entwickelt.

Für die Experimente mit den Münzserien kommen Convolutional Neural Networks (CNN) zum Einsatz. Heutzutage sind diese die am häufigsten verwendeten Algorithmen im Bereich der Bildklassifikation. Ein CNN besitzt verschiedenen Schichten, die ein Bild durchlaufen muss. Durch diese Schichten werden Merkmale extrahiert und gewichtet. Abschließend wird das Bild einer bestehenden Klasse zugeordnet.

Für die Anwendung eines CNN ist normalerweise eine vorher definierte Klassifikation notwendig. Um diese zu umgehen, nutzt ein neuer Ansatz namens Deep Clustering die Kombination aus CNNs und Clusteralgorithmen. Diese Ansätze sollen auch im Projekt ClaReNet angewandt und untersucht werden. Damit ist es möglich, durch selbstständige Mustererkennung und Gewichtung eine eigenständige Klassifikation durch die KI zu erhalten. Die beteiligten Wissenschaftler*innen müssen die durch die KI gebildete Einteilung der Münzen im Anschluss betrachten und bewerten. Entscheidend ist hier, inwieweit die Zuweisungen zu einzelnen Gruppen für die Numismatiker*innen vertretbar sind.

Repräsentation im Netz

ClaReNet wird in mehrfacher Hinsicht Teil der digitalen numismatischen Welt sein. Die bereits von der RGK analog publizierten Funde aus Deutschland (zum Beispiel die keltischen Münzen aus Manching) werden über AFE (Antike Fundmünzen in Europa) online veröffentlicht. Außerdem erarbeiten wir einen virtuellen Verbundkatalog keltischer Münzprägungen namens Online Celtic Coinage. Er verwendet das Vokabular und die Ontologie von nomisma.org und ist mit anderen Linked Open Data-Ressourcen wie der Getty AAT, dem DARIAH-EU Backbone Thesaurus, Normdatenportal des Berliner Münzkabinetts sowie der iDAI.world verlinkt. Auf diese Weise werden alle erzeugten Daten open access den LOUD und FAIR-Prinzipien folgend zur Verfügung gestellt. Mit dem Datenbankmanagementsystem Dédalo wird zunächst ein backend-Katalog erstellt, welcher das Kuratieren von Münzdaten durch die Numismatik ermöglicht und auf welche die IT in Evaluierungsphasen zurückgreifen kann. Weiterhin ist der backend-Katalog das Fundament um weitere frontend-Kataloge wie OCC zu erstellen.

Nicht nur etwas für Naturwissenschaften - eine science and technology-Studie für die Geisteswissenschaften

Abb. 6: Was untersucht eine STS? [Attribution: J. Tietz; Copyright: RGK]

Im Rahmen des Projekts ClaReNet wird die Wissensproduktion und -zirkulation u. a. anhand einer science and technology-Studie (STS) reflektiert (Abb. 6). Ihr Ziel ist es, zu einer Dokumentation über die Veränderungen der Erkenntnis­prozesse durch den Einsatz technischer Geräte, digitaler Werkzeuge und Algorithmen beizutragen. Unter dem Titel „Pfadabhängigkeiten, Akteur-Netzwerke, Digital Agency. Eine STS zu Klassifikationen und Repräsentationen von keltischen Münzen im Netz“ – Kurz: PANDA-STS – werden die Arbeitsprozesse und Wissenspraktiken der mitwirkenden Forscher*innen und Kooperationspartner*innen beobachtend begleitet und analysiert. Dabei wird nach alten und neuen Pfadabhängigkeiten gefragt, die im Zuge von Entscheidungen beim Forschen entstehen. Es werden die Veränderungen der Akteur-Netzwerke bei der Einführung von technischen Geräten – wie der Danneranlage (Abb. 7) – und der KI untersucht sowie die graduellen Formen der Praxisbeteiligung bis hin zur Handlungsmacht (Stichwort digital agency) erforscht.

Abb.7: Für die Analyse stehen Fotoaufnahmen von circa 80.000 keltischen Münzen zur Verfügung. Viele Bilder werden dem Projekt von den Projektpartnern zur Verfügung gestellt, andere hingegen mit einer mobilen Münzfotoanlage, einer Danner QuickPX-Travel, neu fotografiert, wie hier im Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz. [Attribution: J. Tietz; Copyright: ClaReNet, RGK]

Der Blog und das Wiki zum Projekt

Wer mehr über ClaReNet erfahren möchte, findet auf unserem Blog https://clarenet.hypotheses.org nicht nur Hinweise auf Veranstaltungen und Videos, sondern regelmäßig auch Beiträge über unsere Tätigkeiten und Wissenspraktiken. Wir erarbeiten übrigens auch ein Wiki zu den zentralen Begriffen des Projektes, die dann auf dem Blog mit Angabe von Literatur publiziert werden.

Kooperationspartner

Im Rahmen des Projekts kooperieren wir mit einer Vielzahl von Projektpartnern und Institutionen im In- und Ausland:

Zudem sind wir Teil des Konsortialvorhabens NFDI4Objects.

Projektmitarbeiter*innen

RGK:

  • Mirko Brand
  • Kerstin P. Hofmann
  • Markus Möller
  • Caroline von Nicolai
  • Katja Rösler
  • Julia Tietz
  • David Wigg-Wolf (Projektleiter)

Goethe-Universität Frankfurt:

  • Chrisowalandis Deligio
  • Karsten Tolle