Die Tschadseeregion als Wegekreuz – Vortrag an der Ècole de Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS, Paris)

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Die Tschadseeregion als Wegekreuz - Vortrag an der Ècole de Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS, Paris)

Auf Einladung von Agnes Charpentier, Chloé Capel, Élise Voguet und Ingrid Michienzi vom Institut d’études de l’Islam et des sociétés du mondes musulman, hielt Carlos Magnavita am 15. April 2022 in Paris einen Vortrag zu aktuellen Ergebnissen des SPP-Projektes im Rahmen des Workshops Mondes Sahariens : sources, espaces, sociétés, VIIIe-XIXe siècle. Mit dem Titel Tié: Kanem-Borno‘s first Islamic capital Njimi? beschäftigte sich der Vortrag vornehmlich mit der Frage, ob eine der wichtigsten und aktuell vom Projekt untersuchten Fundstellen in Kanem (Tschad), mit der verschollenen spätmittelalterlichen Hauptstadt Njimi gleichgesetzt werden kann.

Nach einer Einführung der Ziele und Umfang des Projekts und des gesamten SPPs, wurde das allgemeine Problem der bis heute nicht identifizierten früheren Hauptstädte der west- und zentralafrikanischen Großreiche Ghana (5. -11. Jh.), Mali (12.-15. Jh.) und Kanem-Borno (8. – 19. Jh.) erörtert. Diese ungelöste allgemeine Frage lieferte den Kontext, um die Diskussion auf zwei Aspekte bisheriger historischer Forschung zu lenken: erstens, die geographische Lage der zwei in mittelalterlichen arabischen Schriften genannten frühen Hauptstädte Kanem-Bornos, Manan (ca. 10. Jh.) und Njimi (ca. 12. Jh.), die in der Region Kanem liegen müssen; zweitens, die vorangegangene Suche nach dem zweiten dieser beiden Orte im 19. und 20. Jahrhundert. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang bezog sich darauf, ob die Backsteinruinen einer seit den 1960er Jahren als Tié bekannten Fundstelle in Zentral-Kanem mit Njimi, der ersten islamischen Hauptstadt Kanem-Bornos, identifiziert werden können.

[Attribution: C. Magnavita; Copyright: C. Magnavita]
[Attribution: C. Magnavita; Copyright: C. Magnavita]

Der Hauptteil des Vortrages befasste sich mit der Präsentation neuester archäologischer Daten, die mittels der seit 2019 vom Projekt durchgeführten regionalen Prospektionen und Ausgrabungen gewonnen wurden. Es wurde vor allem auf die wachsende Anzahl bekannter Fundstellen aus gebrannten Ziegeln in Zentral-Kanem (17 im Jahr 2000 vs. 88 in 2022), auf die Resultate der bisher vorgenommenen radiometrischen Datierungen, auf die zentrale Lage und einzigartige Größe von Tié im Bezug auf anderen Fundstellen in der Region, als auch auf die Ergebnisse bisheriger Ausgrabungen an diesem Fundort hingewiesen. Letzteres schloss die Vorstellung des teilweise freigelegten zentralen Gebäudes von Tié ein. Dieses besteht aus einer zweistöckigen und vergleichsweise großen, rechteckigen Backsteinkonstruktion (ca. 17 x 23 m), deren Innenwände mit feinem weißen Kalkputz versehen sind. Da westlich des Nils nur aus Gao, Hauptstadt des Kawkaw Reichs in Mali, Gebäude mit feinem weißen Innenputz aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert bekannt sind, wurde besonders darauf hingewiesen, dass Tié auf einer Stufe mit dem royalen Sitz eines der großen Königreiche West- und Zentralafrikas steht. Da auch die bisherigen Datierungen auf eine Besiedlung Tiés während der Zeit, in der auch Njimi bekanntlich genutzt wurde (12.-14. Jh.), hindeuten, liegt der Schluss nahe, dass es sich bei Tié um die Ruinen der spätmittelalterlichen Hauptstadt Kanem-Bornos handelt.

Mit seinen 3,2 Hektaren ist Tié/Njimi aber alles andere als eine Stadt gewesen. Es war vermutlich dennoch das wichtigste politische Zentrum des Reiches und Hauptsitz des Sultanats. Die seit 2019 stattfindenden regionalen Prospektionen zeigen in der Tat die Inexistenz von Fundstellen mit urbanen Dimensionen in Kanem. Möglicherweise zeigt sich eine Entwicklung hin zur Urbanität innerhalb des Reiches/Sultanats erst für die Zeit ab dem 15. Jh. Das Fazit des Vortrages bezog sich wiederum auf das Problem der bisher unbekannten frühen Hauptstädte anderer größerer Staaten aus West- und Zentralafrika. Die neuen Forschungsergebnisse aus Kanem machen deutlich, dass auch kleinere royale Siedlungen ohne erkennbar städtischen Charakter oder Ausmaß dennoch wichtige politische Zentren früher Staaten gewesen sein können. Da diese Orte nicht der arabischen und westlichen Vorstellung einer Hauptstadt entsprechen, sind sie bislang von der Forschung übersehen worden.

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