Schützende Schuppen

Wer wollte nicht unverwundbar sein, eine dickere Haut haben als uns Menschen gegeben ist? Kleidung wehrt so einiges ab, doch im Kampf, gegen Hieb und Stich und Schuss, braucht es stärkeren Schutz. Rüstungen. Sie sollen alle lebenswichtigen Organe schützen und dennoch leicht und flexibel die Bewegungen des Trägers mitmachen. Eine ca. 2700 Jahre alte, bei Turfan in Westchina entdeckte Weste zeigt, wie sich Ingenieure in Asien von anderen Lebewesen inspirieren ließen und Soldaten das serienreife Erfolgsmodell von West nach Ost auf dem Kontinent verbreiteten.


Startbild: Detail des Lederschuppenpanzers aus Yanghai, Westchina. [Attribution: Patrick Wertmann; Copyright: DAI]

Unter dem Totenbett eines dreißigjährigen Mannes in Grab Nr. IIM127 fanden die Archäologen bei der Untersuchung des Friedhofes Yanghai bei Turfan ein staubiges Bündel von Insekten angefressener Lederstücke, das auf den ersten Blick zum kargen Rest der anderen Beigaben zu passen schien: Krug und Tasse, Topf und Schale aus Ton, zwei Trensenknebel aus Horn und Holz, ein Feuerbohrer, ein Schafsschädel. Typologisch dem 7.-4. Jahrhundert v. Chr. zuzuordnen. Nicht weiter aufregend, viele Lederobjekte waren im extrem trockenen Klima des Tarim-Beckens erhalten geblieben und man hatte schon Mäntel, Stiefel, Bogenfutterale, Zaumzeug, Peitschen und geflochtene Ledereimer aus dieser Zeit geborgen.

Bei genauerem Hinsehen jedoch zeigte sich, dass dieser Fund anders war. Tausende verblüffend präzise geschnittener, gleichgroßer und gleichförmiger Lederplättchen hingen wie Dachziegel übereinander auf einer Art Umhang.

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Abbildung 1 und 2: Restauratorinnen des Museums Turfan bei der Restaurierung des Lederschuppenpanzers aus Yanghai Grab IIM127 unter Anleitung von Regine Vogel, LVR-LandesMuseum Bonn, 2015 in Turfan. [Attribution: Patrick Wertmann; Copyright: DAI]

Abbildung 3: Einzelteile des Lederschuppenpanzers aus Yanghai Grab IIM127. [Attribution: Patrick Wertmann; Copyright: DAI]

Der Anblick erinnerte am ehesten an Darstellungen von Schuppenpanzern der Skythen und Perser oder an Rüstungen einiger Tonkrieger in der Grabanlage des ersten Kaisers von China. Aber unsere erste Suche in den Publikationen der weltweiten Spezialisten für prähistorische Rüstungen führte uns zu keinem direkt vergleichbaren Objekt. Die Quellen ihrer Forschung sind Texte, bildliche Darstellungen, insbesondere die Wandreliefs in den assyrischen Palästen, griechisch-skythische Kunstwerke, chinesische Skulpturen sowie Funde einzelner Schuppen bis zu Fragmenten von Rüstungen, wenige aus dem zweiten, die meisten aus dem ersten Jahrtausend v. Chr. Aus den Ergebnissen von W. Ventzke, T. Deszö, Th. Hulit, F. De Backer, E.V. Černenko, A.M. Snodgras, A.E. Dien u.a. ergab sich folgender Stand des Wissens:

Den Chinesen waren Schuppenpanzer fremd. Sie schützten sich im 1. Jahrtausend v. Chr. zwar auch mit Rüstungen aus Metall- oder lackierten Lederplatten, doch diese wurden entlang der Kanten durchbohrt und mit Schnüren so verbunden, dass sie nebeneinander liegen. Die Schnüre bleiben sichtbar. Man nennt sie auch „Lamellenpanzer“.

Wahrscheinlich waren es westasiatische Ingenieure, die um ca. 1500 v. Chr. darauf gekommen sind, Schuppenpanzer von Reptilien und Fischen abzugucken und für Menschen zu bauen, in dem sie Plättchen aus Bronze oder Leder so mit Draht oder Riemen verbanden, dass in einer Reihe nebeneinander immer eines das nächste bis etwa zur Hälfte überdeckt und diese Reihen von unten nach oben auf eine Lederhaut genäht sich ebenfalls teilweise, alle Riemen jedoch vollständig abdecken. Das Ergebnis ist eine geschlossene Oberfläche, die Herodot tausend Jahre später beim Anblick persischer Soldaten an Fischschuppen erinnerte.

Man nimmt an, dass solche Körperpanzer zuerst für die Fahrer von damals neuen, von Pferden gezogenen schnellen Streitwagen in Schlachten gebraucht wurden, weil sie über die Fußsoldaten herausragten und leichtes Ziel boten, vor allem aber, weil sie lenkend und kämpfend keine Hand frei hatten, um sich mit einem Schild zu schützen. Leder als Material wurde zwar in Texten erwähnt, doch nur in Ägypten, im Grab von Tutanchamun (gestorben etwa 1323 v. Chr.) fand man tatsächlich eine Rüstung aus Lederschuppen. Sie blieb lange unbeachtet, bis heute ist ihre Konstruktion nicht entschlüsselt.

Als Assyrien im 9. Jh. v. Chr. die dominante Macht in Westasien wurde (Teile des heutigen Iraks, Irans, Syriens, der Türkei und Ägyptens) und Massenheere aufstellte, wurden nicht nur die Wagenbesatzungen mit Schuppenpanzern ausgerüstet, sondern auch andere Elitekräfte wie Speerträger, Bogenschützen und Kämpfer zu Pferde. Die Assyrer übernahmen die Reiterei von den Völkern des Nordens, warben ausländische Reiter für ihre Kavallerie an und rüsteten sie aus. Mit den Skythen gelangten im 8./7. Jh. v. Chr. die ersten Schuppenpanzer in die Steppen nördlich des Kaukasus. Von den Skythen und Achämeniden übernahmen die Griechen um das 5. Jh. v. Chr. herum schließlich das teilweise oder ganz schuppenbesetzte Korsett, doch es blieb ihnen fremd. 

Der umfangreichste Fund aus der Zeit um 1400 v. Chr. aus Kāmid el-Lōz, Libanon, enthält etwa 180 Bronzeschuppen, von deren Vermessung W. Ventzke die bislang genauesten Angaben zur wahrscheinlichen Konstruktion eines Schuppenpanzers ableitete. Weder von den Assyrern noch den Achämeniden sind Rüstungen, wohl aber hier und da Schuppen aus Bronze oder Gold erhalten geblieben. Erst ab dem 5.-3. Jh. v. Chr. liefern Reste von Eisenschuppenpanzern aus dem Nordschwarzmeerraum detailliertere Informationen. In Sibirien, den reichen Kurganen wie Pazyryk und Aržan, kommen Schuppenpanzer gar nicht vor, in Zentralasien frühestens im 4./3. Jh. v. Chr.

Damit war klar: der Lederschuppenpanzer in Yanghai ist nach dem des Tutanchamun weltweit erst der zweite prähistorische Lederpanzer aus gesichertem Kontext und die Anzahl der erhaltenen Teile übersteigt die aller bekannten Schuppenpanzerfunde aus Metall bei weitem. Hier ließ sich vielleicht zum ersten Mal die Konstruktion eines ganzen Panzers erforschen – wenn jemand die Geduld für ein Puzzle mit 5000 Teilen aufbrachte.

Bei einer Lehrunterweisung zur Lederrestaurierung 2015 im Rahmen unseres Kooperationsprojektes „Silk Road Fashion“ hatten die Restauratorinnen unter Anleitung von Frau Regine Vogel damit begonnen, die Teile zunächst sorgsam zu entrollen und aufzulegen. Für mehr war keine Zeit. Dann kam Corona. 2021 separierte die Pandemie unser Team zwar immer noch in Turfan, Zürich, Berlin, Moskau, New York und Bonn, aber dieser Fund hat uns über Monate hinweg verbunden. Wir trafen uns in digitalen Räumen, zählten, vermaßen und zeichneten Schuppen, kalkulierten Längen und Breiten von Reihen und Platten und einigten uns am Ende auf eine plausible Rekonstruktion. Das sind unsere Ergebnisse zum Lederschuppenpanzer aus Yanghai in Kürze:

Die 14C-Datierung eines Pflanzendorns in einer Schuppe präzisierte die Vermutung der Ausgräber und ergab, dass der Panzer zwischen ca. 780 und 540 Jahren v. Chr. getragen wurde. Ursprünglich bestand er wahrscheinlich aus etwa 5444 kleinen (2,5×1,5 cm) Lederschuppen. Sie sind in Reihen nebeneinander durch jeweils drei Schlitze am oberen Rand mit einem Lederband aufgefädelt und überlappen sich bis zur halben Breite. Beim Auffädeln wurden bei jedem zweiten Stich die gereihten Schuppen auch gleich an die Lederunterlage geheftet. Zuerst schneiderte man also das Ledergewand und besetzte es dann von unten nach oben mit leicht seitlich versetzten Schuppenreihen, wobei die obere die untere bis zur halben Höhe abdeckte. Durch diese horizontale und vertikale Drei- bis Vierfachfachüberlappung der Schuppen erreichte der Panzer eine Dicke von ca. 1,2 cm. Die an der Oberfläche exponierten Schuppenecken sind abgerundet, so dass sie sich bei Bewegung und Reibung nicht aufbiegen wie Eselsohren an Schulheftseiten und in ihrer streng symmetrischen Anordnung das typische Bild einer Schuppenhaut ergeben.

 
Links: Aufgefädelte kleine Schuppen (Länge 25 mm, Breite 15 mm, Dicke 3mm), aus denen die Rüstung hauptsächlich besteht. [Attribution: Patrick Wertmann; Copyright: DAI]

Rechts: Aufgefädelte große Schuppen (Länge 80 mm, Breite 15 mm, Dicke 3mm), die nur in einer Reihe unten an der Rüstung verwendet wurden. [Attribution: Patrick Wertmann; Copyright: DAI]

 

Der Panzer hat die Form einer kurzen, schürzenartigen Weste mit breiten Seitenpaneelen, die Brust, Bauch, Leistengegend, die Seiten und den unteren Rücken bedeckte. Sie konnte schnell und ohne die Hilfe einer zweiten Person angelegt werden, die längere linke Seite wurde einfach hinten um den Körper gezogen und an der rechten Hüfte festgebunden. Was wir noch nicht mit Sicherheit klären konnten, ist die Frage, wie die Schulterteile befestigt waren. Alle Spuren deuten darauf hin, dass sie mit Trägern auf dem Rücken überkreuz festgezogen wurden, wie man das später bei einfacheren Panzern in der Armee des Ersten Kaisers von China machte, aber ob und wie das bei dem Yanghaier Panzer funktionierte, müssen wir erst noch testen. Auf der einen Reihe aus 140 großen (8,0×1,5 cm) Schuppen lag vermutlich der Waffengürtel.

Wo und von wem dieser Lederschuppenpanzer gefertigt wurde, musste ebenfalls offenbleiben. Auszuschließen ist die Umgebung von Yanghai wie Nordwestchina insgesamt, weil hier bislang nicht mal eine einzige vergleichbare Lederschuppe entdeckt wurde, ebenfalls Ostchina, weil es eine ganz andere Technik entwickelt hatte. Stilistisch und in vielen konstruktiven Details stimmt der Yanghaier Panzer mit einem gleichaltrigen Lederpanzer aus dem Metropolitan Museum of Art, New York, überein, über dessen Herkunft allerdings leider nichts bekannt ist. Für beide charakteristisch ist der hohe Grad der Standardisierung, sie wirken wir Exemplare aus einer hochprofessionellen Serienfertigung. Zumindest der Yanghaier Panzer passte Leuten unterschiedlicher Statur, Weite und Trägerlänge konnten leicht eingestellt werden. Das alles verweist auf Werkstätten, die auf Schutzwaffen für Massenheere spezialisiert waren, die es im 8.-6. Jh. v. Chr. im neuassyrischen Reich und möglicherweise auch den angrenzenden Regionen gab. Wir nehmen deshalb an, dass wir es in Yanghai mit einem realen Schuppenpanzer eines Kavalleristen zu tun haben, den wir bislang nur von den Wandreliefs z.B. aus dem Palast des Assurbanipal (regierte 669-631 v. Chr.) in Ninive, im heutigen Irak, kannten.

Von den assyrischen Hauptstädten oder dem Nordkaukasus ist es ein weiter Weg nach Yanghai, etwa 4000 km Luftlinie. Ob der Mann aus Nr. IIM127 einer der angeworbenen fremden und mit assyrischer Uniform ausgerüsteten Reiter war, der damit heimkehrte, oder ob er sie jemandem abgenommen hatte, der dort war, oder ob er selbst gar ein Assyrer oder Nordkaukasier war, den es irgendwie nach Turfan verschlagen hatte? Alles ist möglich. Neueste genetische Studien von Jeong et al. (2020) zeigen einen Zustrom aus der Region Kaukasus/Iranisches Plateau/Transoxanien in die Mongolei und das Baikal-See-Gebiet um ca. 750 v. Chr. Auch das Tarim-Becken war in dieser Zeit von einer hohen Bevölkerungsmobilität erfasst, das haben wir schon an anderen Funden und Plätzen festgestellt.

Aber dieser Lederschuppenpanzer ist mehr als ein weiterer Beweis für west-östlichen Ferntransfer vor Beginn des Seidentrassen-Verkehrs, der etwa fünf Jahrhunderte später Fahrt aufnahm. Er ist ein Beispiel für Bionik, der Übertragung von Funktionsweisen der Natur auf die Technik, wie Schwimmflossen und Klettverschluss. Die Rüstungsbauer hatten erkannt, dass der Schutzeffekt nicht allein durch feste Hornplatten entsteht, sondern durch die mehrfache flexible Überlagerung vieler kleiner Platten wie Fischschuppen, die einzeln nicht besonders dick sein müssen. Es kam darauf an, die effektivste Größe, Form und Befestigungsweise am menschlichen Körper zu finden. An den Funden von Kāmid el-Lōz und Tutanchamun sieht man, dass sie um 1400 v. Chr. noch mit verschiedenen Schuppengrößen und Perforierungen experimentierten und die Rüstungen eher Einzelanfertigungen und Prunkstücke für die Elite waren. Das 700 Jahre jüngere Exemplar aus Yanghai dagegen ist ein material- und zeitökonomisches, serienreifes Erfolgsmodell. Bis heute steckt in einigen Typen schusssicherer Westen ein Metallkern aus schützenden Schuppen.

Details und Literaturangaben finden Sie in dieser Publikation zum freien Download:

Wertmann, P., Xu, D., Elkina, I., Vogel, R., Yibulayinmu, M., Tarasov, P.E., La Rocca, D.J., Wagner, M. (2021)
No borders for innovations: A ca. 2700-year-old Assyrian-style leather scale armour in Northwest China. Quaternary International, https://doi.org/10.1016/j.quaint.2021.11.014.

Suggested further reading:
https://www.livescience.com/rare-leather-armor-found-china-burial

Autoren: M. Wagner, P. Wertmann, P. E. Tarasov


Blogmaster: Pascal Olschewski